Fahnenwörter

Fahnenwörter  –  so bezeichnet man in der Linguistik und besonders in der Wortschatzforschung (Lexikologie) Wörter mit einer hohen Symbolkraft und identitätsstiftender oder identitätsbindender Kraft. Der Bedeutungsinhalt (was ist gemeint?) wie auch der Bedeutungsumfang (wer ist gemeint?) bleiben absichtlich unscharf  Ein neues und doch nicht so neues Beispiel ist der Ausdruck “Sozialtourismus” bzw. “Sozialtourist”. Das Wort ist ein guter Kandidat bzw. ein gutes Beispiel für ein Fahnenwort. Es ist sicher nicht ganz falsch, wenn Merz mit Bezug auf die Kritik an seiner Formulierung schreibt, er habe damit niemanden kritisieren wollen (https://twitter.com/_FriedrichMerz/status/1574673118974644225) . Das Wort zielt nicht auf Flüchtlinge, sondern in die Herzen und Hirne derjenigen, die ihrer überdrüssig sind und ihrem Ärger verbal am Stammtisch und an der Wahlurne Luft machen wollen. Er verwendet ein Unwort des Jahres und sucht damit den Anschluss an die “Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen”-Gesinnung. 

Ein älteres Beispiel eines Fahnenwortes ist die “Herdprämie”, polemische Bezeichnung für ein Gesetz, wonach Eltern ein  Betreuungsgeld beantragen können, die keine öffentliche Einrichtung für die Erziehung ihres Nachwuchses in Anspruch nehmen.  Erstmals kam dieses Wort als Fahnenwort in den Jahren 2002 / 2005 auf, im Zusammenhang mit dem geplanten Elterngeld, interessanterweise aber mit der Betonung, dass das Elterngeld “keine Herdprämei” sein solle. Das klingt nach rhetorischem Eigentor.

Zu den neueren Fahnenwörtern gehören sicher auch die Wörter Russlandversteher und -in verschärfter Variante – Putinversteher. Bereits 2007 wurde diese Bezeichnung für Gerhard Schröder gewählt – aus heutiger Sicht nicht zu Unrecht. Auch hier bleibt der Bedeutungsumfang jenseits der Attribution für den ehemaligen Kanzler bewusst vage und kann je nach Bedarf des politischen Diskurses oder Wettkampfs nach Bedarf gefüllt werden, Entscheidend ist die negative Konnotation und die Positionierung im Wettstreit der Positionen zu dem von Russland und besonders Putin der Ukraine aufgezwungenen Krieg. Als eine Art rhetorischer Gegenoffensive brachten Russia Today und Freunde das Wort „Putintroll“ in die Diskussion ein, Die behauptete häufige Verwendung im westlichen Diskurs kann nicht nachgewiesen werden. Auch hier geht es also wohl eher um eine Fahne im Wettbewerb der Wörter und Diskurse.

Material im politischen Kampf kann auf dem verbalen Kampfplatz aufgelesen, Wörter können Sinn-verdreht werden. So ging es dem Ausdruck “Willkommenskultur”, der von der Rechten so instrumentalisiert wurde, dass er unschuldig oder gar anerkennend zur Beschreibung eines gesellschaftlichen Klimas nicht mehr verwendet werden kann. Mit der “Cancel Culture” passiert wohl gerade Ähnliches.