Soeben gab die Gesellschaft für Deutsche Sprache das von einer Jury unter Leitung von Jochen Bär gekürte Wort des Jahres 2022 bekannt. Es ist die “Zeitenwende” geworden. Wie die Jury in ihrer Erklärung selber anmerkt, ist dies kein ganz neues Wort – was ich mit einem genaueren Blick in die Korpora des DWDS bestätigen kann.
“Treue um Treue alle Wege, so grüßen wir an der neuen Zeitwende von Land zu Land, von Stadt zu Stadt.” begrüßt ein Oberbürgermeister Wermuth das Jahr 1916. Man kann davon ausgehen, dass er mit der Zeitenwende eine Wende zum Guten, eine Wendung des Kriegsglücks, wie man damals sagte, erhoffte bzw. heraufbeschwor.
Mit einem gewissen Pathos bei allem Spott verwendet kurze Zeit später (1920) Kurt Tucholsky das Wort als Höhe- und Endpunkt eines Gedichts: „Alles noch so, wie es früher war . . ./ Morgen tun sies grad so wieder . . ./ Und Jesus steigt vom Himmel hernieder./ Breitet segnend die leuchtenden Hände,/ tritt vor den Soldatenlümmel hin / und sagt: »Du, es ist Zeitenwende.“ (Paasche, erschienen 1920, gez. mit Theobald Tiger).
Hier wird auf den Untergang einer alten Zeit (“wie es früher war”) und des damit einhergehenden Zeitgeists des Militarismus angespielt, auch hoffnungsvoll.
Bereits 1929 tönt der “Völkische Beobachter” eine Zeitenwende herbei: “Wir stehen heute an einer Zeitenwende” (VB, 03.03.1929). Auch hier schwingt die Hoffnung des Verfassers nach dem Untergang des verhassten Alten mit.
Selbstverständlich wird auch 1945 eine Zeitenwende konstatiert, etwa im folgenden Beleg von Süddeutschen Zeitung: “Wenn aber die beschämende Feststellung gemacht werden muß, daß hierorts noch Amtsstuben sind, in die überhaupt noch kein Lufthauch der Zeitenwende Eingang gefunden hat, dann finden wir das höchst verdächtig.” (SZ 1945). Auch hier kann man davon ausgehen, dass mit der Zeitenwende der dankbar begrüßte Untergang der alten Verhältnisse, konkret der Herrschaft der Nationalsozialisten, gemeint ist.
Bis hierhin wird das Wort “Zeitenwende”, vor allem in der Geschichtsschreibung und benachbarten Disziplinen, entweder neutral verwendet für historisch verortete Einschnitte in das Alltagsleben, vor allem aber für die auch kalendarisch manifeste Wende “Christi Geburt”. Oder eben positiv, hoffnungsvoll im Ton.
Sorge, gar Angst, werden erst später mit diesem Begriff verknüpft. Als typisch hierfür und immer noch aktuell ein Zitat aus dem Archiv der Gegenwart von 1977: “Wissenschaftler warnen uns vor der Erschöpfung der Rohstoffquellen. Die Grenzen der Belastbarkeit der Umwelt werden sichtbar. In zehn Jahren ändert sich die Welt mehr als früher in Jahrhunderten. Manche sprechen von einer Zeitenwende.”
Betrachten wir nun, in Dekaden aufgeteilt, die Frequenzentwicklung dieses Wortes ab 1990 – für diesen Zeitraum ist die Datenbasis des DWDS hinreichend groß: 1990-1999: 2711 Belege, 2000-2009: 6043 Belege, 2010-219: 9316 Belege, 2022: 6106 Belege.
Lässt sich die Zunahme der absoluten Häufigkeit seit 1990 vermutlich überwiegend mit dem Wachsen des zugrundeliegenden Korpus erklären – in mehr Texten wird es erwartbar auch mehr Vorkommen dieses Wortes geben – trifft dies für das Jahr 2022 nicht zu. Der erwartete Wert für ein knappes Zehntel einer Dekade läge um 1000 Vorkommen, beobachtet werden über 6000 Vorkommen. Keine Frage, dieses Wort hat Konjunktur !
Ein weiteres Indiz ist die Anzahl der zitierenden Kontexte. So häufig wird das Wort in Anführungszeichen und damit in den meisten Fällen anspielend, vielleicht auch distanzierend verwendet: 2002: 38 Belege, 2012: 33 Belege, 2022: 885 Belege. Der Zusatz “sog.” bzw. “sogenannte” für Zeitenwende ist nur für das Jahr 2022 belegt (23 Belege), ein Zeichen dafür, dass das Wort nicht nur so einfach verwendet wird, sondern selbst Gegenstand des Diskurses ist.
Was ist nun mit der semantischen Polarität des Wortes? Ich habe mir eine Stichprobe von 50 Belegen aus dem Juli 2022 angesehen. Davon sind: 13 den Ausspruch von Scholz zitierend, 16 negativ polarisiert, 14 positiv polarisiert. 7 Verwendungen sind neutral oder eine Polarisierung lässt sich nicht feststellen. Das Bild ist also gemischt. Die einen sehen in der “neuen Zeit” Chancen oder eine positive Entwicklung, die anderen etwas Schicksalhaftes, Besorgnis Erregendes. Interessant ist auch, dass dieser Begriff auf ganz banale Sachverhalte wie die Neuausrichtung eines Gestütes verwendet wird. Zeitenwende allerorten!